Afghanistan-Krise Zehntausende Tadschiken in Deutschland - Paradebeispiel verfehlter Flüchtlingspolitik

Stand: 02.10.2021 | Lesedauer: 5 Minuten

Von Marcel Leubecher Politikredakteur

Flucht vor Krieg und Chaos in Afghanistan: Rund 90.000 Asylbewerber der Volksgruppe der afghanischen Tadschiken haben in der Bundesrepublik Schutz gesucht - in den an Afghanistan angrenzenden tadschikischen Staat zieht kaum einer. Woran liegt das? Die tadschikische Grenzstadt Khorugh liegt an der Grenze zu Afghanistan
Quelle: Universal Images Group via Getty

Wie zu allen Zeiten fliehen auch heute die allermeisten Menschen vor Krieg und Staatszerfall in sicherere Gebiete ihrer Heimatländer oder in angrenzende Staaten. Die Suche nach Schutz vor Gewalt mit einer Auswanderung in Staaten auf anderen Kontinenten zu verbinden, ist in relevanten Größenordnungen ein historisch recht junges Phänomen.

Und es ist sehr ineffizient: Die Versorgung von Flüchtlingen in den Nachbarländern zerfallender Staaten verursacht ungleich weniger Kosten, als beispielsweise in Deutschland, wo der Schutz eines Menschen vor Verfolgung mit der Finanzierung eines westlichen Lebensstandards einhergeht. Ein zentrales Problem ist, dass die Nachbarstaaten der Fluchtländer in der Regel relativ arm sind und trotz der geografischen, religiösen und kulturellen Nähe zu den Flüchtlingen die Aufnahme verweigern.

Ein Paradebeispiel für die ineffiziente internationale Arbeitsteilung in der Flüchtlingsschutzpolitik - zwischen reichen weit entfernten Staaten und den armen Nachbarländern - liefert die Schutzgewährung für afghanische Tadschiken. Sie stellen die zweitgrößte Ethnie in Afghanistan. Und sie suchen häufiger Schutz in Deutschland als im benachbarten Tadschikistan.

Erst seit der vergangenen Dekade machen sich Afghanen über Iran und Pakistan in größerem Umfang nach Europa auf. Besonders häufig handelt es sich bei den in Deutschland ankommenden Afghanen um ethnische Tadschiken.

Wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) WELT mitteilt, gaben rund 90.000 der seit 2015 eingereisten Asylbewerber aus Afghanistan an, zur tadschikischen Volksgruppe zu gehören - genauer: 89.328 Menschen von Januar 2015 bis zum Juli 2021. Die nächstgrößere Volksgruppe stellen Paschtunen und Hazara.

In 15 Jahren 15.000 Flüchtlinge aus Afghanistan aufgenommen

Inzwischen leben mehr afghanische Tadschiken in der Bundesrepublik als in Tadschikistan, dem an Afghanistan angrenzenden Nationalstaat dieser persischsprachigen Ethnie. Die Regierung der ehemaligen Sowjetrepublik teilte der Nachrichtenagentur Reuters kürzlich mit, Tadschikistan habe innerhalb der vergangenen 15 Jahre insgesamt 15.000 Flüchtlinge aus Afghanistan aufgenommen.

Laut der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR waren zum Jahreswechsel rund 6000 Flüchtlinge - zu 99 Prozent Afghanen - in Tadschikistan registriert. Im laufenden Jahr flohen demnach schätzungsweise weitere 5300 Afghanen nach Tadschikistan, vor allem seit dem Vormarsch der Taliban in den zurückliegenden Monaten.

Während der sich anbahnenden Machtübernahme der Taliban im Juli hatte die Regierung des Neun-Millionen-Einwohner-Staates Bereitschaft signalisiert, in den kommenden Jahren 100.000 Flüchtlinge aufnehmen zu können - falls mit internationaler Unterstützung entsprechende Infrastruktur geschaffen würde.

Anfang September ruderte Tadschikistan - wohl auch wegen russischer Sicherheitsbedenken - zurück; Innenminister Ramazon Rakimzoda erklärte laut Reuters: "Tadschikistan hat keine Kapazitäten, größere Gruppen von Afghanen unterzubringen."

Seine Regierung habe aber 70 Hektar Land im Grenzgebiet zur Verfügung gestellt, auf dem die internationale Gemeinschaft Flüchtlinge versorgen könne. "Keine einzige internationale Organisation hat uns über die letzten 20 Jahre wirklich geholfen, Infrastrukturen für Flüchtlinge zu errichten", sagte er.

Tatsächlich helfen UNHCR und westliche Geber jährlich mit einigen Millionen Euro dem armen Staat bei der Flüchtlingsaufnahme, aber offenbar nicht in einer Größenordnung, die Afghanistans Nachbarland davon überzeugen könnte, deutlich mehr Geflohene unterzubringen.

Auch Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) konnte bei seiner jüngsten Reise in die afghanischen Anrainerstaaten keinen Erfolg bei dem Versuch vermelden, dort die Aufnahmebereitschaft zu steigern.

Außenminister Heiko Maas und der tadschikische Staatspräsidenten Emomali Rachmon
Quelle: pa/dpa/Michael Fischer

Laut "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" übergab ihm der tadschikische Autokrat Emomali Rahmon lediglich seinen "Wunschzettel für Entwicklungsprojekte und anderes", ohne auf den Wunsch des deutschen Besuchers nach mehr Flüchtlingsengagement einzugehen.

Unbestritten hat der Staat große wirtschaftliche Sorgen - er ist deutlich ärmer als die ebenfalls an Afghanistan angrenzenden und ebenfalls aufnahmeunwilligen Länder Usbekistan und Turkmenistan. So arbeiten Hunderttausende Tadschiken in Russland, weil sie in der Heimat kaum Geld verdienen. Viele von ihnen bleiben dauerhaft und hinterlassen oft Frauen und Kinder - für die es ebenfalls einige internationale Hilfsprojekte gibt: So bietet die Internationale Organisation für Migration materielle und psychologische Unterstützung an.

Quelle: Infografik WELT

Materielle Sorgen und Sicherheitsbedenken der tadschikischen Regierung, die gewaltbereite Islamisten unter den Flüchtlingen fürchtet, sind der Hintergrund für die geringe Aufnahmebereitschaft. Obwohl die Tadschiken auf beiden Seiten der Grenze die Sprache und den sunnitischen Islam teilen, gelingt es der internationalen Gemeinschaft nicht, der tadschikischen Regierung ausreichend Angebote zu unterbreiten, um sich stärker zu engagieren.

In Deutschland fallen in der Regel monatlich mehr als 1000 Euro für die Aufnahme eines Flüchtlings oder abgelehnten Asylbewerbers an, solange der Lebensunterhalt noch nicht selbst verdient wird. Die Versorgung und Betreuung eines unbegleiteten Minderjährigen, darunter sind Afghanen die größte Gruppe, kostet mehr als 4000 Euro im Monat. In Tadschikistan könnte mit solchen Beträgen vielfach mehr Afghanen Schutz vor Verfolgung und Krieg geboten werden.

Regierungsinformationen über die Kosten für eine menschenwürdige Flüchtlingsaufnahme von Unterbringung über Bildung und Berufsförderung bis zur medizinischen Versorgung liegen zwar leider nicht vor. Der Regionalbeauftragte der Konrad-Adenauer-Stiftung für Zentralasien, Ronny Heine, geht aber davon aus, dass "für den Lebensunterhalt eines Flüchtlings, ausgehend vom offiziellen Existenzminimum des Landes, mindestens 200 US-Dollar pro Monat benötigt werden".

Er orientiere sich an der Schätzung tadschikischer Zivilgesellschaftsexperten. In einfachen UN-Flüchtlingscamps, die nur zeitlich befristet Schutz und Versorgung bieten, sind die Kosten noch deutlich geringer.

Auch ist die Rückkehrwahrscheinlichkeit aus den Nachbarstaaten viel höher, weil die Verbindung zu den zurückbleibenden Familien und Herkunftsorten leichter erhalten werden kann. So kehrten in den vergangenen Jahren aus Iran oder Pakistan Hunderttausende wieder zurück in ihre Dörfer und Städte.

In Deutschland führt die Einreise von afghanischen Asylbewerbern fast immer zur dauerhaften Einwanderung, egal ob individuell verfolgt, wegen der allgemeinen Unsicherheit als schutzberechtigt anerkannt oder abgelehnt. Wie Menschen aus Afghanistan vor den Taliban fliehen - "Wenn ich zurückmuss, werde ich getötet" WELT/Laura Fritsch

Bis zu 1500 Menschen überqueren täglich Schätzungen zufolge die türkisch-iranische Grenze. Und jeden Tag werden es mehr - seitdem feststeht, dass die Taliban die neuen Herrscher in Afghanistan sind. Auch eine Mauer hält sie nicht auf.


Quelle: welt.de